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Große Partien ... (VIII): Ivanchuk - Gelfand 2010

Vabanque - 31. Dez '13
Man kann Vassily Ivanchuk mit Fug und Recht zu den größten Spielern
rechnen, die nie Weltmeister geworden sind. Obwohl die folgende Partie
wahrscheinlich nicht zu seinen bedeutendsten gehört, nehme ich sie in diese
Reihe auf, weil die Schlussphase (passend auch zu Sylvester) ein
beispielloses Feuerwerk abbrennt. Es handelt sich um eine Schnellpartie,
die in einem der mittlerweile schon legendären Amber-Turniere (bei dem die
Teilnehmer ausschließlich durch Einladung bestimmt werden) gespielt wurde.
Beide Spieler hatten 25 Minuten für alle Züge plus 10 Sekunden
Zeitgutschrift für jeden gemachten Zug. Während Botvinnik das Blitzschach
bekanntlich völlg ablehnte und auch dem Schnellschach skeptisch gegenüber
stand, hat sich Bronstein schon vor vielen Jahren für diese Art von Schach
eingesetzt und sie sogar als beste Möglichkeit für kreatives Schach
gerühmt. Partien wie die folgende sind jedenfalls ein glänzendes Plädoyer
für das Schnellschach.
Wenn auch das Prädikat 'Große Partie der Schachgeschichte' für dieses Spiel etwas übertrieben scheint, so bietet sie auf alle Fälle glänzende schachliche Unterhaltung auf höchstem Niveau!

Vassily Ivanchuk Boris Gelfand Amber Tournament (Rapid) | Nice FRA | 11 | 2010.03.25 | C42 | 1:0
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. e4 e5 2. Sf3 Sf6 Diese so genannte Russische oder Petrov-Verteidigung wurde vor allem in den 80er Jahren von einigen großen Spielern, wie z.B. Smyslov, bevorzugt. Man ist im Allgemeinen der Ansicht, dass sie solide ist und zum Ausgleich genügt. 3. Sxe5 d6 4. Sf3 Sxe4 5. Sc3!? Aber das ist ein scharfer Zug, der Schwarz Probleme stellt. Wie ich schon in einer früheren Partie anmerkte, muss man dem Gegner Zugeständnisse machen, um sich andere Vorteile dafür einzuhandeln. Hier nimmt Weiß die Entwertung seiner Bauernstruktur in Kauf, um dafür schnell zur Entwicklung zu kommen. Sxc3 6. xc3 Le7 7. Le3 O-O 8. Dd2 Weiß strebt eine schleunige lange Rochade an, um dann ungestört seine Bauern am Königsflügel vorschicken zu können, zwecks Lockerung der schwarzen Königsfestung. Sd7 9. O-O-O Te8 10. h4 c6 11. Kb1 Diesen prophylaktischen Zug muss man nach der langen Rochade meistens noch einschalten, wenn Zeit dazu ist. Da5 Denn natürlich probiert Schwarz ein Gegenspiel gegen den weißen König. 12. h5 h6 Es ist immer eine schwierige Entscheidung, ob man den gegnerischen h-Bauern bis auf die 6. Reihe kommen lassen soll (um anschließend g6 zu ziehen, damit die Linien geschlossen bleiben), oder ob man ihn schon vorher stoppen soll, wie es hier geschieht. Dies war Ende des 19. Jh. sogar der Gegenstand eines theoretischen Streits zwischen Steinitz und Tarrasch. Steinitz meinte, man solle den Bauern bis h6 kommen lassen, Tarrasch plädierte dafür, ihn vorher zu stoppen, da er sonst einen 'Pfahl im Fleische' bilden würde, der alle möglichen Mattwendungen heraufbeschwöre. Ja, in der damaligen Zeit meinte man, für jede typische Situation auf dem Brett ein allgemeines Prinzip aufstellen zu können, das dann für alle Stellungen dieses Typs Gültigkeit besitzt. Inzwischen ist aber klar geworden, dass allgemeine Prinzipien im Schach nur begrenzte Gültigkeit besitzen, und dass in der konkret vorliegenden Situation mal die eine, mal die andere Entscheidung richtig sein kann. In der gegenwärtigen Partie bewährt sich das Stoppen des Bauern jedenfalls nicht, weil Weiß sehr den Bauern h6 sehr rasch als 'Angriffsmarke' benutzen kann (worauf aber auch schon seinerzeit Tarrasch hingewiesen hatte). Wenn der weiße g-Bauer in weiteren 2 Zügen bis nach g5 gelangt, kann Schwarz der Linienöffnung nicht mehr ausweichen. Ohne den weißen h-Bauern auf h5 könnte Schwarz dann noch mit h6-h5 vorbeiziehen. 13. Ld3 Das Läuferopfer auf h6 wäre im vorigen Zug inkorrekt gewesen (Schwarz hätte es annehmen und dann durch Lf8 den Angriff abschlagen können). Jetzt verhindert es Schwarz vorsorglich und stärkt gleichzeitig den Punkt g7, gegen den sich der zu erwartende weiße Angriff auf der g-Linie ja richten wird. Lf8 14. g4 Sf6 Auf dem ersten Blick scheint Schwarz damit dem Weißen geradewegs in die Hände zu spielen, weil g4-g5 jetzt auch noch mit Tempo geschehen kann. Aber Schwarz möchte unbedingt seinen Lc8 herausbringen können. 15. g5 Le6 Jetzt droht Schwarz als Erster Matt (in 2 Zügen, beginnend mit Dxa2+). 16. a3 Sg4
Zu erwägen war hier auch das sofortige Dd5 mit Erneuerung der Mattdrohung und gleichzeitigem Angriff gegen den ungedeckten Springer auf f3, aber nach 17. c4 Dxf3 18. xf6 Dxf6 19. Tdg1 stünde Weiß sehr vielversprechend, da er den Angriff auf der g-Linie nahezu unbehelligt wird weiterführen können; das schwarze Gegenspiel wäre dagegen stecken geblieben.
17. xh6 Schon ist die g-Linie offen. Dd5 Das gleiche Motiv wieder: Mattdrohung und Angriff auf den Springer. Ist das nicht jetzt sehr stark, wo der schwarze Springer nicht mehr angegriffen ist? War Ivanchuks letzter Zug nicht ein Versehen? 18. De2 Nein! 'Chucky' hat alles genau kalkuliert. Er deckt seinen Springer mit einem Zug, der seinem König gleichzeitig ein Fluchfeld auf d2 verschafft, und lässt die schwarze Dame sich einfach austoben. Dann wird der weiße König im Zentrum relativ sicher stehen, während Schwarz dem Angriff auf der g-Linien nichts mehr entgegenzusetzen haben wird. Da2+ 19. Kc1 Da1+ 20. Kd2 Dxb2 21. Tdg1 Ld7 Natürlich ist dieser Zug ein Eingeständnis, dass sich Schwarz verrannt hat und nicht weiterkommt. Vermutlich wollte Gelfand damit seinem Te8 einen besseren Ausblick verschaffen. Aber jetzt brennt Ivanchuk ein regelrechtes Feuerwerk ab. Gerettet hätte hier übrigens nichts mehr; auf Dxa3 z.B. könnte Sd4 mit Angriff auf den Sg4 folgen, der dann die g-Linie räumen müsste, entweder durch Wegzug oder durch Abtausch. In beiden Fällen dränge Weiß schnell durch. 22. Txg4! Dieser Zug macht nur Sinn in Hinblick auf den folgenden. In dieser Stellung ist das Opfer nicht der einzige Weg zum Gewinn, aber sicher der schönste. Lxg4 23. Sg5!! Damenopfer machen immer Effekt, und auf Weltklasseniveau haben sie Seltenheitswert! Greift Schwarz mit Lxe2 zu, so kommt Matt in 2 Zügen durch h7+ und Sxf7#. Man staunt über die Kraft des h-Bauern, der freilich ohne die freundliche Stütze, die ihm der bescheiden im Hintergrund sich aufhaltende Ld3 gewährt, hier machtlos wäre. Diese schöne Wendung droht jetzt natürlich auch so, und da gleichzeitig der Lg4 von der Dame angegriffen ist, ist der nächste Zug von Schwarz erzwungen. Le6 24. Ld4 Wieder am hübschesten! Auf gxh6 käme Matt durch Lh7. Gleichzeitig droht jetzt plötzlich das weitere Damenopfer Dxe6!!, um den Verteidiger von f7 zu beseitigen und wieder das durch h7+ eingeleitete Matt in 2 Zügen geben zu können. Und letztlich stellt sich der Läufer auch ideal gegen g7 auf. Da2 Schwarz pariert die Drohung des Damenopfers. 25. Tg1 Alle weißen Kräfte sind jetzt ideal aufgestellt. c5 Schwarz möchte wenigstens den Läufer abdrängen, aber die Stellung ist bereits reif für ein forciertes Matt. 26. Lh7+ Kh8 27. xg7+ Lxg7 28. Sxf7+! Das letzte Opfer? Lxf7 Auf Kxh7 setzt Txg7 matt: der opferwütige Springer blockiert die Fluchtfelder! 29. Lxg7+ Nein, auch der Läufer h7 muss noch dran glauben. Jetzt bleiben Weiß gerade mal genügend Figuren zum Mattsetzen. Kxh7 30. Dd3+ Ohne diese Möglichkeit hätte 28. Sxf7+ nicht funktioniert. Kg8 31. Lf6+ Kf8 32. Dxd6+ Wegen Matt im nächsten Zug gab Schwarz auf. Ein mitreißender Wirbelsturm!
PGN anzeigen
[Event "Amber Tournament (Rapid)"]
[Site "Nice FRA"]
[Date "2010.03.25"]
[EventDate "2010.03.13"]
[Round "11"]
[Result "1-0"]
[White "Vassily

Ivanchuk"]
[Black "Boris Gelfand"]
[ECO "C42"]
[WhiteElo "2748"]
[BlackElo

"2750"]
[PlyCount "63"]

1. e4 e5 2. Nf3 Nf6 {Diese so genannte Russische oder

Petrov-Verteidigung wurde vor allem in den 80er Jahren von einigen großen

Spielern, wie z.B. Smyslov, bevorzugt. Man ist im Allgemeinen der Ansicht,

dass sie solide ist und zum Ausgleich genügt.} 3. Nxe5 d6 4. Nf3 Nxe4 5.

Nc3!? {Aber das ist ein scharfer Zug, der Schwarz Probleme stellt. Wie ich

schon in einer früheren Partie anmerkte, muss man dem Gegner Zugeständnisse

machen, um sich andere Vorteile dafür einzuhandeln. Hier nimmt Weiß die

Entwertung seiner Bauernstruktur in Kauf, um dafür schnell zur Entwicklung

zu kommen.} Nxc3 6. dxc3 Be7 7. Be3 O-O
8. Qd2 {Weiß strebt eine schleunige lange Rochade an, um dann ungestört

seine Bauern am Königsflügel vorschicken zu können, zwecks Lockerung der

schwarzen Königsfestung.} Nd7 9. O-O-O Re8 10. h4 c6 11. Kb1 {Diesen

prophylaktischen Zug muss man nach der langen Rochade meistens noch

einschalten, wenn Zeit dazu ist.} Qa5 {Denn natürlich probiert Schwarz ein

Gegenspiel gegen den weißen König.} 12. h5 h6 {Es ist immer eine schwierige

Entscheidung, ob man den gegnerischen h-Bauern bis auf die 6. Reihe kommen

lassen soll (um anschließend g6 zu ziehen, damit die Linien geschlossen

bleiben), oder ob man ihn schon vorher stoppen soll, wie es hier geschieht.

Dies war Ende des 19. Jh. sogar der Gegenstand eines theoretischen Streits

zwischen Steinitz und Tarrasch. Steinitz meinte, man solle den Bauern bis

h6 kommen lassen, Tarrasch plädierte dafür, ihn vorher zu stoppen, da er

sonst einen 'Pfahl im Fleische' bilden würde, der alle möglichen

Mattwendungen heraufbeschwöre. Ja, in der damaligen Zeit meinte man, für

jede typische Situation auf dem Brett ein allgemeines Prinzip aufstellen zu

können, das dann für alle Stellungen dieses Typs Gültigkeit besitzt.

Inzwischen ist aber klar geworden, dass allgemeine Prinzipien im Schach nur

begrenzte Gültigkeit besitzen, und dass in der konkret vorliegenden

Situation mal die eine, mal die andere Entscheidung richtig sein kann. In

der gegenwärtigen Partie bewährt sich das Stoppen des Bauern jedenfalls

nicht, weil Weiß sehr den Bauern h6 sehr rasch als 'Angriffsmarke' benutzen

kann (worauf aber auch schon seinerzeit Tarrasch hingewiesen hatte). Wenn

der weiße g-Bauer in weiteren 2 Zügen bis nach g5 gelangt, kann Schwarz der

Linienöffnung nicht mehr ausweichen. Ohne den weißen h-Bauern auf h5 könnte

Schwarz dann noch mit h6-h5 vorbeiziehen.} 13. Bd3 {Das Läuferopfer auf h6

wäre im vorigen Zug inkorrekt gewesen (Schwarz hätte es annehmen und dann

durch Lf8 den Angriff abschlagen können). Jetzt verhindert es Schwarz

vorsorglich und stärkt gleichzeitig den Punkt g7, gegen den sich der zu

erwartende weiße Angriff auf der g-Linie ja richten wird.} Bf8 14. g4 Nf6

{Auf dem ersten Blick scheint Schwarz damit dem Weißen geradewegs in die

Hände zu spielen, weil g4-g5 jetzt auch noch mit Tempo geschehen kann. Aber

Schwarz möchte unbedingt seinen Lc8 herausbringen können.}
15. g5 Be6 {Jetzt droht Schwarz als Erster Matt (in 2 Zügen, beginnend mit

Dxa2+).} 16. a3 Ng4 ({Zu erwägen war hier auch das sofortige } 16... Qd5

{mit Erneuerung der Mattdrohung und gleichzeitigem Angriff gegen den

ungedeckten Springer auf f3, aber nach} 17. c4 Qxf3 18. gxf6 Qxf6 19. Rdg1

{stünde Weiß sehr vielversprechend, da er den Angriff auf der g-Linie

nahezu unbehelligt wird weiterführen können; das schwarze Gegenspiel wäre

dagegen stecken geblieben.}) 17. gxh6 {Schon ist die g-Linie offen.}
Qd5 {Das gleiche Motiv wieder: Mattdrohung und Angriff auf den Springer.

Ist das nicht jetzt sehr stark, wo der schwarze Springer nicht mehr

angegriffen ist? War Ivanchuks letzter Zug nicht ein Versehen?} 18. Qe2

{Nein! 'Chucky' hat alles genau kalkuliert. Er deckt seinen Springer mit

einem Zug, der seinem König gleichzeitig ein Fluchfeld auf d2 verschafft,

und lässt die schwarze Dame sich einfach austoben. Dann wird der weiße

König im Zentrum relativ sicher stehen, während Schwarz dem Angriff auf der

g-Linien nichts mehr entgegenzusetzen haben wird.} Qa2+ 19. Kc1 Qa1+ 20.

Kd2 Qxb2 21. Rdg1 Bd7 {Natürlich ist dieser Zug ein Eingeständnis, dass

sich Schwarz verrannt hat und nicht weiterkommt. Vermutlich wollte Gelfand

damit seinem Te8 einen besseren Ausblick verschaffen. Aber jetzt brennt

Ivanchuk ein regelrechtes Feuerwerk ab. Gerettet hätte hier übrigens nichts

mehr; auf Dxa3 z.B. könnte Sd4 mit Angriff auf den Sg4 folgen, der dann die

g-Linie räumen müsste, entweder durch Wegzug oder durch Abtausch. In beiden

Fällen dränge Weiß schnell durch.}
22. Rxg4! {Dieser Zug macht nur Sinn in Hinblick auf den folgenden. In

dieser Stellung ist das Opfer nicht der einzige Weg zum Gewinn, aber sicher

der schönste.} Bxg4 23. Ng5!!{Damenopfer machen immer Effekt, und auf

Weltklasseniveau haben sie Seltenheitswert! Greift Schwarz mit Lxe2 zu, so

kommt Matt in 2 Zügen durch h7+ und Sxf7#. Man staunt über die Kraft des

h-Bauern, der freilich ohne die freundliche Stütze, die ihm der bescheiden

im Hintergrund sich aufhaltende Ld3 gewährt, hier machtlos wäre. Diese schöne

Wendung droht jetzt natürlich auch so, und da gleichzeitig der Lg4 von der

Dame angegriffen ist, ist der nächste Zug von Schwarz erzwungen.} Be6 24.

Bd4 {Wieder am hübschesten! Auf gxh6 käme Matt durch Lh7. Gleichzeitig

droht jetzt plötzlich das weitere Damenopfer Dxe6!!, um den Verteidiger von

f7 zu beseitigen und wieder das durch h7+ eingeleitete Matt in 2 Zügen

geben zu können. Und letztlich stellt sich der Läufer auch ideal gegen g7

auf.} Qa2 {Schwarz pariert die Drohung des Damenopfers.} 25. Rg1 {Alle

weißen Kräfte sind jetzt ideal aufgestellt.} c5 {Schwarz möchte wenigstens

den Läufer abdrängen, aber die Stellung ist bereits reif für ein forciertes

Matt.} 26. Bh7+ Kh8 27. hxg7+ Bxg7 28. Nxf7+! {Das letzte Opfer?} Bxf7 {Auf

Kxh7 setzt Txg7 matt: der opferwütige Springer blockiert die Fluchtfelder!}

29. Bxg7+ {Nein, auch der Läufer h7 muss noch dran glauben. Jetzt bleiben

Weiß gerade mal genügend Figuren zum Mattsetzen.}
Kxh7 30. Qd3+ {Ohne diese Möglichkeit hätte 28. Sxf7+ nicht funktioniert.}

Kg8 31. Bf6+ Kf8 32. Qxd6+ {Wegen Matt im nächsten Zug gab Schwarz auf. Ein

mitreißender Wirbelsturm!} 1-0