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Große Partien der Schachgeschichte (II): Kramnik-Anand 1996

Vabanque - 18. Dez '13
Viele Schachfreunde halten ja Kramniks Spielstil für langweilig. Vielleicht sollten sich Kramnik-Hasser mal die vorliegende Partie ansehen, in der Kramnik ein spektakuläres positionelles (!!) Damenopfer bringt, um einen zentralen Freibauern zur Geltung zu bringen. Zu dem Zeitpunkt, wo er das Damenopfer bringt, erscheint es einem Durchschnittsspieler wie mir ganz unwahrscheinlich, dass Weiß damit etwas erreichen könnte. Aber wenige Züge später sieht die Lage dann schon ganz anders aus ... und das Schlussspiel erscheint dann schon geradezu verblüffend einfach.

Vladimir Kramnik Viswanathan Anand Las Palmas | Las Palmas, Canary Islands ESP | 6 | 1996.12.16 | A30 | 1:0
8
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a
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1. Sf3 Sf6 2. c4 b6 3. g3 Lb7 4. Lg2 e6 5. O-O Le7 6. Sc3 O-O Wenn jetzt Weiß 6. d4 spielt, dann haben wir eine bekannte und oft gespielte Stellung aus der Damenindischen Verteidigung vor uns. Ich hatte diese Variante auch selber oft mit Weiß auf dem Brett, und mir ist es nie gelungen, der weißen Partie ein Gesicht zu geben. Das liegt sicherlich auch an meinem mangelnden Stellungsverständnis (ein leichter positioneller Vorteil sollte sich hier mit Weiß schon herausspielen lassen), andererseits tendiert gerade das klassische Damenindisch zu farblosen Stellungsbildern. Vielleicht deswegen geht Kramnik hier einen anderen Weg. 7. Te1 Deckt seine Karten noch nicht auf und erinnert ein wenig an die legendären 'mysteriösen Turmzüge' von Nimzowitsch. Vielleicht ist Kramnik ja auch derjenige moderne Spieler, dessen Stil am ehesten mit Nimzowitsch verglichen werden kann. Andere vergleichen Kramnik mit Capablanca (wobei eher Carlsen der moderne Capa ist), andere mit Petrosian (da finde ich eher Leko den modernen Petrosian), wieder andere mit Rubinstein (der moderne Rubinstein ist vielleicht eher Ponomariov). d5 8. xd5 Sxd5 Natürlich konnte Anand auch gut exd5 spielen. Anand lässt ein starkes weißes Bauernzentrum zu, das er von der Flanke anzugreifen gedenkt, ähnlich der Grünfeld-indischen Verteidigung. Hier funktioniert das aber nicht so gut, weil in der gegenwärtigen Stellung kein Läufer auf g7 steht, der gegen das weiße Zentrum 'schießen' kann. 9. e4 Sxc3 10. xc3 c5 11. d4 Sd7 12. Lf4 Diese Läuferstellung sieht ein bisschen merkwürdig aus, aber eigentlich steht der Läufer hier unangefochten, denn Schwarz wird kaum mit g5 seine Königsflanke unheilbar schwächen wollen. xd4 13. xd4 Sf6 Jetzt hängt der Bauer e4. 14. Se5 Nun verteidigt der Läufer g2 den Bauern, und gleichzeitig steht der Springer auf einem riesigen Feld. Tartakower sagte einmal: 'Die Meister stellen ihren Springer nach e5. Das Matt folgt dann automatisch.' Wie 'automatisch' das geht, zeigt die vorliegende Partie. Lb4 Schwarz wird auf dem Damenflügel aktiv. Dort liegen auch seine langfristigen Chancen, weil er am Damenflügel eine Bauernmehrheit hat. Das reine Bauernendspiel (d.h. wenn alle Figuren abgetauscht wären) sähe Schwarz stark im Vorteil, weil er dann einen so genannten entfernten Freibauern auf der b-Linie bilden könnte, der vom weißen König schlecht aufgehalten werden könnte. Der weiße König müsste dazu eine weite Reise unternehmen und dafür das Zentrum und den Königsflügel im Stich lassen, wo der schwarze König dann einbrechen könnte. Der entsprechende Freibauer von Weiß auf der d-Linie dagegen wäre vom schwarzen König leicht unter Kontrolle zu bringen. Daraus folgt, dass die weißen Chancen generell im Mittelspiel, die schwarzen im Endspiel zu suchen sind. In der gegenwärtigen Partie jedoch gelingt es Weiß letztlich, eine Art Endspiel herbeizuführen, in dem der freie d-Bauer den entscheidenden Trumpf darstellt. 15. Te3 Tc8 16. d5! Bevor Schwarz am Damenflügel irgendetwas Konkretes unternehmen kann, regt sich die zentrale Bauernmehrheit von Weiß, xd5
Das Ausweichen mit De7 führt nach 17. d6! Dxd6
Lxd6 18. Sg6 xg6 19. Lxd6
18. Sd3 De7 19. Sxb4 Dxb4 20. Ld6 zum Qualitätsgewinn.
17. xd5 Ld6 Schwarz darf den Bauern weder mit dem Springer noch mit dem Läufer nehmen, weil jeweils 18. Td3 eine verhängnisvolle Fesselung herbeiführt. Schwarz kann sich dann zwar in beiden Fällen unter großen Komplikationen aus der Fesselung befreien, verliert aber letztlich doch, wie ausführliche Analysen gezeigt haben. 18. Sc6! Lxc6 Schwarz ist zum Schlagen gezwungen, denn auf ein Ausweichen der Dame tauscht Weiß auf d6 und spielt dann die Springergabel auf e7. 19. Lxd6! La4!? Eine interessante Verteidigungsressource. Auf 19... Dxd6 20. dxc6 ist der weiße Freibauer sehr stark. 20. Lxf8!! Ein Hammerzug! Kramnik opfert seine Dame (für Turm und Läufer), weil er auf die Stärke seinen zentralen Freibauern vertraut. Ein sehr mutige Entscheidung, zumal hier ja keine konkreten Varianten durchgerechnet werden konnten. Das einfache 20. Dxa4 Dxd6 21. Dxa7 scheint Kramnik nicht zufrieden gestellt zu haben, vermutlich weil dann Schwarz mit Sxd5 den schönen Freibauern ungestraft verspeisen kann. Weder die Fesselung durch 22. Td3 (aus der sich Schwarz mit Df6! durch Gegenangriff auf den Turm a1 befreien kann) noch durch 22. Td1 (worauf Schwarz mit Sxe3!! wegen der Mattdrohung auf der Grundreihe sogar gewinnt) funktionieren danach. Weiß könnte zwar durch 22. Lxd5 Dxd5 23. Dxb6 einen Mehrbauern behalten (der sogar ein Freibauer auf der a-Linie ist), doch in solchen gemischten Schwerfigurenendspielen ist es nicht sicher, ob so ein Mehrbauer den Gewinn verbürgt. Das wäre ein mühsames Endspiel geworden, auch wenn es objektiv wahrscheinlich die beste Gewinnchance für Weiß gewesen wäre. Aber die objektiv besten Züge sind nicht immer die, welche dem Gegner die größten praktischen Probleme stellen. Kramniks Damenopfer reicht objektiv wahrscheinlich nicht zum Gewinn, ist aber, wie man gleich sehen wird, gut genug, um einem Weltklassespieler wie Anand derart gewaltige Verteidigungsprobleme zu stellen, dass dieser sie in einer praktischen Partie mit beschränkter Bedenkzeit nicht zu lösen vermag. Lxd1 21. Le7 Dc7 Engines halten Dd7 für etwas besser und geben einen leichten Vorteil für Schwarz an, was aber in solchen Stellungen mit ungleicher Materialverteilung so gut wie gar nichts besagt. 22. Txd1 Sd7 Hier und im nächsten Zug gab es für Schwarz immerhin noch die Chance Dc2. 23. Lh3 h6 24. Lf5 Mit eigentlich einfachen Manövern hat Kramnik seine Figuren alle auf optimale Plätze gestellt. b5 Ein Versuch von Schwarz, die schon erwähnte Bauernmehrheit am Damenflügel in Bewegung zu setzen. Aber weit kommt er nicht, wie man gleich sehen wird. 25. Lb4 Td8 Auf 25... a5 spielt Weiß 26. d6! gefolgt von Te7 26. Te7 Schon ist Schwarz an Händen und Füßen gefesselt Dc4 Ein verzweifelter Befreiungsversuch. Die Kraft der Fesselung zeigt sich besonders schön nach 26... g6 27. Le6! fxe6 28. dxe6. 27. Txd7! Txd7 28. Lxd7 Dxb4 29. d6 Freibauern müssen geschoben werden! Analysen bestätigen, dass jedes Zögern hier zum Vorteil von Schwarz ausschlagen würde. Jetzt aber sind die einzigen Chancen, die Schwarz noch hat, Angriffe auf den weißen Turm oder Schachgebote. Da4
De4 30. Lxb5 Dc2 31. Te1 Dd2 32. Te8+ Kh7 33. d7 Dd1+ 34. Kg2 Dd5+ 35. f3 Dd2+ 36. Kh3
30. Td3?! Kramnik gab später 30. Te1! als präziser an. Es ist behauptet worden, dass auf den Textzug Schwarz mit 30. ... Kf8 die Partie hätte halten können. Das ist jedoch nicht richtig, auch wenn dieser Zug dem Weißen den Gewinn gewaltig erschwert hätte. Analysen mit Stockfish (deren Hauptvariante ich in der nächsten Anmerkung poste) ergeben, dass auch dann Weiß immerhin noch einen schmalen Weg zum Gewinn gehabt hätte. De4
Kf8 31. Lf5 Ke8 32. h4 g6 33. Lc8 Dxa2 34. d7+ Kd8 35. Te3 Dd2 36. Te8+ Kc7 37. d8=Q+ Dxd8 38. Txd8 Kxd8 39. La6 b4 40. Kf1 Kc7 41. Ke2 Kb6 42. Lc4 f6 43. Kd3 g5 44. h5
Das Schlagen auf a2 ist übrigens nicht besser wegen Dxa2 31. Lf5 Da5 32. d7 Dd8 33. Tc3
31. Lxb5 De1+ Da es mit der Verfolgung des weißen Turms nichts war, bleiben jetzt nur noch die Schachgebote. 32. Kg2 De4+ 33. Kg1 Eine gängige Praxis im Turnierschach. Durch die Zugwiederholung verdirbt Weiß nichts und gewinnt Zeit auf der Uhr. De1+
Kf8 34. d7
34. Kg2 De4+ 35. Kf1 Jetzt hat Weiß sich überzeugt, dass dies gewinnt. Dh1+ 36. Ke2 De4+
Dxh2 37. d7 Dh5+ 38. g4! So erreicht Weiß am einfachsten, dass Schwarz bald kein Schach mehr hat De5+
Dxg4+ 39. Kf1 und schon ist kein Schach mehr da!
39. Kf1 Da1+ 40. Kg2
37. Kf1 Derselbe Zeitgewinn wie vorher. Dh1+ 38. Ke2 De4+ 39. Kd1 Dg4+
Auch nach Dh1+ 40. Kc2 Da1 41. d7 Dxa2+ 42. Kd1 Db1+ 43. Ke2 Dc2+
Db2+ 44. Kf1 Db1+ 45. Kg2
44. Kf3 entkommt der weiße König den Schachgeboten.
40. f3 Weiß hat die Zeitkontrolle erreicht und die schwarzen Schachgebote abgewehrt. Nun schiebt er seinen Bauern ganz locker zum Umwandlungsfeld durch. Dh3 41. d7 und Schwarz gab auf, weil er gerade noch zwei 'Racheschachs' geben kann: Df1+ 42. Kc2 De2+ 43. Td2 finis. Bis zuletzt behielt Schwarz seinen materiellen Vorteil! Die Partie bildet eine großartige Illustration der Kraft, die ein isolierter zentraler Freibauer entwickeln kann, wenn er von Figuren unterstützt ist.
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[Event "Las Palmas"]
[Site "Las Palmas, Canary Islands ESP"]
[Date "1996.12.16"]
[EventDate "1996.12.09"]
[Round "6"]
[Result "1-0"]
[White "Vladimir Kramnik"]
[Black "Viswanathan Anand"]
[ECO "A30"]
[WhiteElo "2765"]
[BlackElo "2735"]
[PlyCount "81"]

1. Nf3 Nf6 2. c4 b6 3. g3 Bb7 4. Bg2 e6 5. O-O Be7 6. Nc3 O-O {Wenn jetzt Weiß
6. d4 spielt, dann haben wir eine bekannte und oft gespielte Stellung aus der
Damenindischen Verteidigung vor uns. Ich hatte diese Variante auch selber oft
mit Weiß auf dem Brett, und mir ist es nie gelungen, der weißen Partie ein
Gesicht zu geben. Das liegt sicherlich auch an meinem mangelnden
Stellungsverständnis (ein leichter positioneller Vorteil sollte sich hier mit
Weiß schon herausspielen lassen), andererseits tendiert gerade das klassische
Damenindisch zu farblosen Stellungsbildern. Vielleicht deswegen geht Kramnik
hier einen anderen Weg.} 7. Re1 {Deckt seine Karten noch nicht auf und erinnert
ein wenig an die legendären 'mysteriösen Turmzüge' von Nimzowitsch. Vielleicht
ist Kramnik ja auch derjenige moderne Spieler, dessen Stil am ehesten mit
Nimzowitsch verglichen werden kann. Andere vergleichen Kramnik mit Capablanca
(wobei eher Carlsen der moderne Capa ist), andere mit Petrosian (da finde ich
eher Leko den modernen Petrosian), wieder andere mit Rubinstein (der moderne
Rubinstein ist vielleicht eher Ponomariov).} 7... d5 8. cxd5 Nxd5 {Natürlich
konnte Anand auch gut exd5 spielen. Anand lässt ein starkes weißes
Bauernzentrum zu, das er von der Flanke anzugreifen gedenkt, ähnlich der
Grünfeld-indischen Verteidigung. Hier funktioniert das aber nicht so gut, weil
in der gegenwärtigen Stellung kein Läufer auf g7 steht, der gegen das weiße
Zentrum 'schießen' kann.} 9. e4 Nxc3 10. bxc3 c5 11. d4 Nd7 12. Bf4 {Diese
Läuferstellung sieht ein bisschen merkwürdig aus, aber eigentlich steht der
Läufer hier unangefochten, denn Schwarz wird kaum mit g5 seine Königsflanke
unheilbar schwächen wollen.} 12... cxd4 13. cxd4 Nf6 {Jetzt hängt der Bauer
e4.} 14. Ne5 {Nun verteidigt der Läufer g2 den Bauern, und gleichzeitig steht
der Springer auf einem riesigen Feld. Tartakower sagte einmal: 'Die Meister
stellen ihren Springer nach e5. Das Matt folgt dann automatisch.' Wie
'automatisch' das geht, zeigt die vorliegende Partie.} 14... Bb4 {Schwarz wird
auf dem Damenflügel aktiv. Dort liegen auch seine langfristigen Chancen, weil
er am Damenflügel eine Bauernmehrheit hat. Das reine Bauernendspiel (d.h. wenn
alle Figuren abgetauscht wären) sähe Schwarz stark im Vorteil, weil er dann
einen so genannten entfernten Freibauern auf der b-Linie bilden könnte, der vom
weißen König schlecht aufgehalten werden könnte. Der weiße König müsste dazu
eine weite Reise unternehmen und dafür das Zentrum und den Königsflügel im
Stich lassen, wo der schwarze König dann einbrechen könnte. Der entsprechende
Freibauer von Weiß auf der d-Linie dagegen wäre vom schwarzen König leicht
unter Kontrolle zu bringen. Daraus folgt, dass die weißen Chancen generell im
Mittelspiel, die schwarzen im Endspiel zu suchen sind. In der gegenwärtigen
Partie jedoch gelingt es Weiß letztlich, eine Art Endspiel herbeizuführen, in
dem der freie d-Bauer den entscheidenden Trumpf darstellt.} 15. Re3 Rc8 16. d5
$1 {Bevor Schwarz am Damenflügel irgendetwas Konkretes unternehmen kann, regt
sich die zentrale Bauernmehrheit von Weiß,} 16... exd5 ( {Das Ausweichen mit}
16... Qe7 {führt nach} 17. d6 $1 Qxd6 (17... Bxd6 18. Ng6 hxg6 19. Bxd6) 18.
Nd3 Qe7 19. Nxb4 Qxb4 20. Bd6 {zum Qualitätsgewinn.} ) 17. exd5 Bd6 {Schwarz
darf den Bauern weder mit dem Springer noch mit dem Läufer nehmen, weil jeweils
18. Td3 eine verhängnisvolle Fesselung herbeiführt. Schwarz kann sich dann zwar
in beiden Fällen unter großen Komplikationen aus der Fesselung befreien,
verliert aber letztlich doch, wie ausführliche Analysen gezeigt haben.} 18. Nc6
$1 Bxc6 {Schwarz ist zum Schlagen gezwungen, denn auf ein Ausweichen der Dame
tauscht Weiß auf d6 und spielt dann die Springergabel auf e7.} 19. Bxd6 $1 Ba4
$5 {Eine interessante Verteidigungsressource. Auf 19... Dxd6 20. dxc6 ist der
weiße Freibauer sehr stark.} 20. Bxf8 $3 {Ein Hammerzug! Kramnik opfert seine
Dame (für Turm und Läufer), weil er auf die Stärke seinen zentralen Freibauern
vertraut. Ein sehr mutige Entscheidung, zumal hier ja keine konkreten Varianten
durchgerechnet werden konnten. Das einfache 20. Dxa4 Dxd6 21. Dxa7 scheint
Kramnik nicht zufrieden gestellt zu haben, vermutlich weil dann Schwarz mit
Sxd5 den schönen Freibauern ungestraft verspeisen kann. Weder die Fesselung
durch 22. Td3 (aus der sich Schwarz mit Df6! durch Gegenangriff auf den Turm a1
befreien kann) noch durch 22. Td1 (worauf Schwarz mit Sxe3!! wegen der
Mattdrohung auf der Grundreihe sogar gewinnt) funktionieren danach. Weiß könnte
zwar durch 22. Lxd5 Dxd5 23. Dxb6 einen Mehrbauern behalten (der sogar ein
Freibauer auf der a-Linie ist), doch in solchen gemischten
Schwerfigurenendspielen ist es nicht sicher, ob so ein Mehrbauer den Gewinn
verbürgt. Das wäre ein mühsames Endspiel geworden, auch wenn es objektiv
wahrscheinlich die beste Gewinnchance für Weiß gewesen wäre. Aber die objektiv
besten Züge sind nicht immer die, welche dem Gegner die größten praktischen
Probleme stellen. Kramniks Damenopfer reicht objektiv wahrscheinlich nicht zum
Gewinn, ist aber, wie man gleich sehen wird, gut genug, um einem
Weltklassespieler wie Anand derart gewaltige Verteidigungsprobleme zu stellen,
dass dieser sie in einer praktischen Partie mit beschränkter Bedenkzeit nicht
zu lösen vermag.} 20... Bxd1 21. Be7 Qc7 {Engines halten Dd7 für etwas besser
und geben einen leichten Vorteil für Schwarz an, was aber in solchen Stellungen
mit ungleicher Materialverteilung so gut wie gar nichts besagt.} 22. Rxd1 Nd7
{Hier und im nächsten Zug gab es für Schwarz immerhin noch die Chance Dc2.} 23.
Bh3 h6 24. Bf5 {Mit eigentlich einfachen Manövern hat Kramnik seine Figuren
alle auf optimale Plätze gestellt.} 24... b5 {Ein Versuch von Schwarz, die
schon erwähnte Bauernmehrheit am Damenflügel in Bewegung zu setzen. Aber weit
kommt er nicht, wie man gleich sehen wird.} 25. Bb4 Rd8 { Auf 25... a5 spielt
Weiß 26. d6! gefolgt von Te7} 26. Re7 {Schon ist Schwarz an Händen und Füßen
gefesselt} 26... Qc4 {Ein verzweifelter Befreiungsversuch. Die Kraft der
Fesselung zeigt sich besonders schön nach 26... g6 27. Le6! fxe6 28. dxe6.} 27.
Rxd7 $1 Rxd7 28. Bxd7 Qxb4 29. d6 {Freibauern müssen geschoben werden! Analysen
bestätigen, dass jedes Zögern hier zum Vorteil von Schwarz ausschlagen würde.
Jetzt aber sind die einzigen Chancen, die Schwarz noch hat, Angriffe auf den
weißen Turm oder Schachgebote.} 29... Qa4 (29... Qe4 30. Bxb5 Qc2 31. Re1 Qd2
32. Re8+ Kh7 33. d7 Qd1+ 34. Kg2 Qd5+ 35. f3 Qd2+ 36. Kh3) 30. Rd3 $6 {Kramnik
gab später 30. Te1! als präziser an. Es ist behauptet worden, dass auf den
Textzug Schwarz mit 30. ... Kf8 die Partie hätte halten können. Das ist jedoch
nicht richtig, auch wenn dieser Zug dem Weißen den Gewinn gewaltig erschwert
hätte. Analysen mit Stockfish (deren Hauptvariante ich in der nächsten
Anmerkung poste) ergeben, dass auch dann Weiß immerhin noch einen schmalen Weg
zum Gewinn gehabt hätte.} 30... Qe4 (30... Kf8 31. Bf5 Ke8 32. h4 g6 33. Bc8
Qxa2 34. d7+ Kd8 35. Re3 Qd2 36. Re8+ Kc7 37. d8=Q+ Qxd8 38. Rxd8 Kxd8 39. Ba6
b4 40. Kf1 Kc7 41. Ke2 Kb6 42. Bc4 f6 43. Kd3 g5 44. h5) ( {Das Schlagen auf
a2 ist übrigens nicht besser wegen} 30... Qxa2 31. Bf5 Qa5 32. d7 Qd8 33. Rc3)
31. Bxb5 Qe1+ {Da es mit der Verfolgung des weißen Turms nichts war, bleiben
jetzt nur noch die Schachgebote.} 32. Kg2 Qe4+ 33. Kg1 {Eine gängige Praxis im
Turnierschach. Durch die Zugwiederholung verdirbt Weiß nichts und gewinnt Zeit
auf der Uhr.} 33... Qe1+ (33... Kf8 34. d7) 34. Kg2 Qe4+ 35. Kf1 {Jetzt hat
Weiß sich überzeugt, dass dies gewinnt.} 35... Qh1+ 36. Ke2 Qe4+ (36... Qxh2
37. d7 Qh5+ 38. g4 $1 {So erreicht Weiß am einfachsten, dass Schwarz bald kein
Schach mehr hat} 38... Qe5+ (38... Qxg4+ 39. Kf1 {und schon ist kein Schach
mehr da!} ) 39. Kf1 Qa1+ 40. Kg2) 37. Kf1 {Derselbe Zeitgewinn wie vorher.}
37... Qh1+ 38. Ke2 Qe4+ 39. Kd1 Qg4+ ( {Auch nach} 39... Qh1+ 40. Kc2 Qa1 41.
d7 Qxa2+ 42. Kd1 Qb1+ 43. Ke2 Qc2+ (43... Qb2+ 44. Kf1 Qb1+ 45. Kg2) 44. Kf3
{entkommt der weiße König den Schachgeboten.} ) 40. f3 {Weiß hat die
Zeitkontrolle erreicht und die schwarzen Schachgebote abgewehrt. Nun schiebt er
seinen Bauern ganz locker zum Umwandlungsfeld durch.} 40... Qh3 41. d7 {und
Schwarz gab auf, weil er gerade noch zwei 'Racheschachs' geben kann: Df1+ 42.
Kc2 De2+ 43. Td2 finis. Bis zuletzt behielt Schwarz seinen materiellen Vorteil! Die Partie bildet eine großartige Illustration der Kraft, die ein isolierter zentraler Freibauer entwickeln kann, wenn er von Figuren unterstützt ist.} 1-0

Hasenrat - 19. Dez '13
Ich hoffe, diese Serie etabliert sich hier - gefällt mir sehr gut!
Vabanque - 19. Dez '13
Danke! Wenn positives Feedback kommt, habe ich natürlich viel eher die Motivation, weiter an der Serie zu arbeiten. Mein Ziel ist, Top-Partien allgemein verständlich zu erklären. Natürlich geht das nicht mit jeder Partie, deswegen wähle ich die Partien auch entsprechend aus. Ich möchte die Kommentare einfach halten, aber andererseits nicht zu stark vereinfachen. Wenn hinterher der Eindruck entsteht, etwas verstanden zu haben, dann ist mein Ziel erreicht. Glaubt man jedoch nach der Lektüre gar, man könne auch so spielen wie Kramnik, dann habe ich zu sehr vereinfacht und einen falschen Eindruck erweckt.
Natürlich werde ich mit dieser Serie nie so viele Kommentare erhalten wie die Partie, welche von der Ratte im Keller gespielt wurde, aber mir ist schon klar, dass das daran liegt, dass Kramnik - Anand auch mit den besten Erklärungen nicht eben mal so zwischen dem Abendessen und dem Espresso zu konsumieren ist; da muss man sich schon etwas mehr Zeit nehmen, um sich in die Stellungsbilder zu vertiefen ;)
duennbraddel - 19. Dez '13
Sehr gut kommentiert. Macht auf jeden Fall Spaß das zu lesen und nachzuspielen. Danke.
Hasenrat - 19. Dez '13
Gerade genau richtig, es macht Spaß zu lesen und nachzuspielen und man wird nicht abgeschreckt durch Variantenwust oder zu trockene "hohe" Fachkommentare.
Vabanque - 19. Dez '13
Danke nochmals, genau diesen Variantenwust hasse ich nämlich auch, das sind nämlich größtenteils alles nachträgliche Analysen, die selten dem entsprechen, was den Spielern während der Partie wirklich durch den Kopf gegangen ist. Variantenwust hilft selten, die Stellung oder die Entscheidungen der Spieler besser zu verstehen oder die Partie zu genießen. Ebenso hasse ich Kommentare, die nur dazu dienen, das überragende Fachwissen des Kommentators zur Schau zu stellen.
aspis40 - 20. Dez '13
Ganz große Klasse!

Ich genieße die Partien ;-)))
Vabanque - 20. Dez '13
Die kennst du doch sicher alle schon :)

Trotzdem herzlichen Dank!!
Flixer - 20. Dez '13
Auch von mir ein herzliches Danke, eine sehr schöne Partie gut verständlich kommentiert.