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Große Partien der Schachgeschichte (II): Kramnik-Anand 1996
Vabanque - 18. Dez '13
Viele Schachfreunde halten ja Kramniks Spielstil für langweilig. Vielleicht sollten sich Kramnik-Hasser mal die vorliegende Partie ansehen, in der Kramnik ein spektakuläres positionelles (!!) Damenopfer bringt, um einen zentralen Freibauern zur Geltung zu bringen. Zu dem Zeitpunkt, wo er das Damenopfer bringt, erscheint es einem Durchschnittsspieler wie mir ganz unwahrscheinlich, dass Weiß damit etwas erreichen könnte. Aber wenige Züge später sieht die Lage dann schon ganz anders aus ... und das Schlussspiel erscheint dann schon geradezu verblüffend einfach.































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Vladimir Kramnik Viswanathan Anand Las Palmas | Las Palmas, Canary Islands ESP | 6 | 1996.12.16 | A30 | 1:0
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1. Sf3 Sf6 2. c4 b6 3. g3 Lb7 4. Lg2 e6 5. O-O Le7 6. Sc3 O-O Wenn jetzt Weiß 6. d4 spielt, dann haben wir eine bekannte und oft gespielte Stellung aus der Damenindischen Verteidigung vor uns. Ich hatte diese Variante auch selber oft mit Weiß auf dem Brett, und mir ist es nie gelungen, der weißen Partie ein Gesicht zu geben. Das liegt sicherlich auch an meinem mangelnden Stellungsverständnis (ein leichter positioneller Vorteil sollte sich hier mit Weiß schon herausspielen lassen), andererseits tendiert gerade das klassische Damenindisch zu farblosen Stellungsbildern. Vielleicht deswegen geht Kramnik hier einen anderen Weg. 7. Te1 Deckt seine Karten noch nicht auf und erinnert ein wenig an die legendären 'mysteriösen Turmzüge' von Nimzowitsch. Vielleicht ist Kramnik ja auch derjenige moderne Spieler, dessen Stil am ehesten mit Nimzowitsch verglichen werden kann. Andere vergleichen Kramnik mit Capablanca (wobei eher Carlsen der moderne Capa ist), andere mit Petrosian (da finde ich eher Leko den modernen Petrosian), wieder andere mit Rubinstein (der moderne Rubinstein ist vielleicht eher Ponomariov). d5 8. xd5 Sxd5 Natürlich konnte Anand auch gut exd5 spielen. Anand lässt ein starkes weißes Bauernzentrum zu, das er von der Flanke anzugreifen gedenkt, ähnlich der Grünfeld-indischen Verteidigung. Hier funktioniert das aber nicht so gut, weil in der gegenwärtigen Stellung kein Läufer auf g7 steht, der gegen das weiße Zentrum 'schießen' kann. 9. e4 Sxc3 10. xc3 c5 11. d4 Sd7 12. Lf4 Diese Läuferstellung sieht ein bisschen merkwürdig aus, aber eigentlich steht der Läufer hier unangefochten, denn Schwarz wird kaum mit g5 seine Königsflanke unheilbar schwächen wollen. xd4 13. xd4 Sf6 Jetzt hängt der Bauer e4. 14. Se5 Nun verteidigt der Läufer g2 den Bauern, und gleichzeitig steht der Springer auf einem riesigen Feld. Tartakower sagte einmal: 'Die Meister stellen ihren Springer nach e5. Das Matt folgt dann automatisch.' Wie 'automatisch' das geht, zeigt die vorliegende Partie. Lb4 Schwarz wird auf dem Damenflügel aktiv. Dort liegen auch seine langfristigen Chancen, weil er am Damenflügel eine Bauernmehrheit hat. Das reine Bauernendspiel (d.h. wenn alle Figuren abgetauscht wären) sähe Schwarz stark im Vorteil, weil er dann einen so genannten entfernten Freibauern auf der b-Linie bilden könnte, der vom weißen König schlecht aufgehalten werden könnte. Der weiße König müsste dazu eine weite Reise unternehmen und dafür das Zentrum und den Königsflügel im Stich lassen, wo der schwarze König dann einbrechen könnte. Der entsprechende Freibauer von Weiß auf der d-Linie dagegen wäre vom schwarzen König leicht unter Kontrolle zu bringen. Daraus folgt, dass die weißen Chancen generell im Mittelspiel, die schwarzen im Endspiel zu suchen sind. In der gegenwärtigen Partie jedoch gelingt es Weiß letztlich, eine Art Endspiel herbeizuführen, in dem der freie d-Bauer den entscheidenden Trumpf darstellt. 15. Te3 Tc8 16. d5! Bevor Schwarz am Damenflügel irgendetwas Konkretes unternehmen kann, regt sich die zentrale Bauernmehrheit von Weiß, xd5 17. xd5 Ld6 Schwarz darf den Bauern weder mit dem Springer noch mit dem Läufer nehmen, weil jeweils 18. Td3 eine verhängnisvolle Fesselung herbeiführt. Schwarz kann sich dann zwar in beiden Fällen unter großen Komplikationen aus der Fesselung befreien, verliert aber letztlich doch, wie ausführliche Analysen gezeigt haben. 18. Sc6! Lxc6 Schwarz ist zum Schlagen gezwungen, denn auf ein Ausweichen der Dame tauscht Weiß auf d6 und spielt dann die Springergabel auf e7. 19. Lxd6! La4!? Eine interessante Verteidigungsressource. Auf 19... Dxd6 20. dxc6 ist der weiße Freibauer sehr stark. 20. Lxf8!! Ein Hammerzug! Kramnik opfert seine Dame (für Turm und Läufer), weil er auf die Stärke seinen zentralen Freibauern vertraut. Ein sehr mutige Entscheidung, zumal hier ja keine konkreten Varianten durchgerechnet werden konnten. Das einfache 20. Dxa4 Dxd6 21. Dxa7 scheint Kramnik nicht zufrieden gestellt zu haben, vermutlich weil dann Schwarz mit Sxd5 den schönen Freibauern ungestraft verspeisen kann. Weder die Fesselung durch 22. Td3 (aus der sich Schwarz mit Df6! durch Gegenangriff auf den Turm a1 befreien kann) noch durch 22. Td1 (worauf Schwarz mit Sxe3!! wegen der Mattdrohung auf der Grundreihe sogar gewinnt) funktionieren danach. Weiß könnte zwar durch 22. Lxd5 Dxd5 23. Dxb6 einen Mehrbauern behalten (der sogar ein Freibauer auf der a-Linie ist), doch in solchen gemischten Schwerfigurenendspielen ist es nicht sicher, ob so ein Mehrbauer den Gewinn verbürgt. Das wäre ein mühsames Endspiel geworden, auch wenn es objektiv wahrscheinlich die beste Gewinnchance für Weiß gewesen wäre. Aber die objektiv besten Züge sind nicht immer die, welche dem Gegner die größten praktischen Probleme stellen. Kramniks Damenopfer reicht objektiv wahrscheinlich nicht zum Gewinn, ist aber, wie man gleich sehen wird, gut genug, um einem Weltklassespieler wie Anand derart gewaltige Verteidigungsprobleme zu stellen, dass dieser sie in einer praktischen Partie mit beschränkter Bedenkzeit nicht zu lösen vermag. Lxd1 21. Le7 Dc7 Engines halten Dd7 für etwas besser und geben einen leichten Vorteil für Schwarz an, was aber in solchen Stellungen mit ungleicher Materialverteilung so gut wie gar nichts besagt. 22. Txd1 Sd7 Hier und im nächsten Zug gab es für Schwarz immerhin noch die Chance Dc2. 23. Lh3 h6 24. Lf5 Mit eigentlich einfachen Manövern hat Kramnik seine Figuren alle auf optimale Plätze gestellt. b5 Ein Versuch von Schwarz, die schon erwähnte Bauernmehrheit am Damenflügel in Bewegung zu setzen. Aber weit kommt er nicht, wie man gleich sehen wird. 25. Lb4 Td8 Auf 25... a5 spielt Weiß 26. d6! gefolgt von Te7 26. Te7 Schon ist Schwarz an Händen und Füßen gefesselt Dc4 Ein verzweifelter Befreiungsversuch. Die Kraft der Fesselung zeigt sich besonders schön nach 26... g6 27. Le6! fxe6 28. dxe6. 27. Txd7! Txd7 28. Lxd7 Dxb4 29. d6 Freibauern müssen geschoben werden! Analysen bestätigen, dass jedes Zögern hier zum Vorteil von Schwarz ausschlagen würde. Jetzt aber sind die einzigen Chancen, die Schwarz noch hat, Angriffe auf den weißen Turm oder Schachgebote. Da4 30. Td3?! Kramnik gab später 30. Te1! als präziser an. Es ist behauptet worden, dass auf den Textzug Schwarz mit 30. ... Kf8 die Partie hätte halten können. Das ist jedoch nicht richtig, auch wenn dieser Zug dem Weißen den Gewinn gewaltig erschwert hätte. Analysen mit Stockfish (deren Hauptvariante ich in der nächsten Anmerkung poste) ergeben, dass auch dann Weiß immerhin noch einen schmalen Weg zum Gewinn gehabt hätte. De4 31. Lxb5 De1+ Da es mit der Verfolgung des weißen Turms nichts war, bleiben jetzt nur noch die Schachgebote. 32. Kg2 De4+ 33. Kg1 Eine gängige Praxis im Turnierschach. Durch die Zugwiederholung verdirbt Weiß nichts und gewinnt Zeit auf der Uhr. De1+ 34. Kg2 De4+ 35. Kf1 Jetzt hat Weiß sich überzeugt, dass dies gewinnt. Dh1+ 36. Ke2 De4+ 37. Kf1 Derselbe Zeitgewinn wie vorher. Dh1+ 38. Ke2 De4+ 39. Kd1 Dg4+ 40. f3 Weiß hat die Zeitkontrolle erreicht und die schwarzen Schachgebote abgewehrt. Nun schiebt er seinen Bauern ganz locker zum Umwandlungsfeld durch. Dh3 41. d7 und Schwarz gab auf, weil er gerade noch zwei 'Racheschachs' geben kann: Df1+ 42. Kc2 De2+ 43. Td2 finis. Bis zuletzt behielt Schwarz seinen materiellen Vorteil! Die Partie bildet eine großartige Illustration der Kraft, die ein isolierter zentraler Freibauer entwickeln kann, wenn er von Figuren unterstützt ist.
Hasenrat - 19. Dez '13
Ich hoffe, diese Serie etabliert sich hier - gefällt mir sehr gut!
Vabanque - 19. Dez '13
Danke! Wenn positives Feedback kommt, habe ich natürlich viel eher die Motivation, weiter an der Serie zu arbeiten. Mein Ziel ist, Top-Partien allgemein verständlich zu erklären. Natürlich geht das nicht mit jeder Partie, deswegen wähle ich die Partien auch entsprechend aus. Ich möchte die Kommentare einfach halten, aber andererseits nicht zu stark vereinfachen. Wenn hinterher der Eindruck entsteht, etwas verstanden zu haben, dann ist mein Ziel erreicht. Glaubt man jedoch nach der Lektüre gar, man könne auch so spielen wie Kramnik, dann habe ich zu sehr vereinfacht und einen falschen Eindruck erweckt.
Natürlich werde ich mit dieser Serie nie so viele Kommentare erhalten wie die Partie, welche von der Ratte im Keller gespielt wurde, aber mir ist schon klar, dass das daran liegt, dass Kramnik - Anand auch mit den besten Erklärungen nicht eben mal so zwischen dem Abendessen und dem Espresso zu konsumieren ist; da muss man sich schon etwas mehr Zeit nehmen, um sich in die Stellungsbilder zu vertiefen ;)
Natürlich werde ich mit dieser Serie nie so viele Kommentare erhalten wie die Partie, welche von der Ratte im Keller gespielt wurde, aber mir ist schon klar, dass das daran liegt, dass Kramnik - Anand auch mit den besten Erklärungen nicht eben mal so zwischen dem Abendessen und dem Espresso zu konsumieren ist; da muss man sich schon etwas mehr Zeit nehmen, um sich in die Stellungsbilder zu vertiefen ;)
duennbraddel - 19. Dez '13
Sehr gut kommentiert. Macht auf jeden Fall Spaß das zu lesen und nachzuspielen. Danke.
Hasenrat - 19. Dez '13
Gerade genau richtig, es macht Spaß zu lesen und nachzuspielen und man wird nicht abgeschreckt durch Variantenwust oder zu trockene "hohe" Fachkommentare.
Vabanque - 19. Dez '13
Danke nochmals, genau diesen Variantenwust hasse ich nämlich auch, das sind nämlich größtenteils alles nachträgliche Analysen, die selten dem entsprechen, was den Spielern während der Partie wirklich durch den Kopf gegangen ist. Variantenwust hilft selten, die Stellung oder die Entscheidungen der Spieler besser zu verstehen oder die Partie zu genießen. Ebenso hasse ich Kommentare, die nur dazu dienen, das überragende Fachwissen des Kommentators zur Schau zu stellen.
aspis40 - 20. Dez '13
Ganz große Klasse!
Ich genieße die Partien ;-)))
Ich genieße die Partien ;-)))
Vabanque - 20. Dez '13
Die kennst du doch sicher alle schon :)
Trotzdem herzlichen Dank!!
Trotzdem herzlichen Dank!!
Flixer - 20. Dez '13
Auch von mir ein herzliches Danke, eine sehr schöne Partie gut verständlich kommentiert.